Klein-Venedig nannte der Reiseführer den Ort Alleppey in Kerala. Tatsächlich erinnern die Kanäle, Boote und Brücken sehr an die Stadt in Italien. Wenn da nicht die Palmen wären, und ein kleines Mädchen mit einer schönen Geschichte.
„Kerala is the most educated state. Best example: me!” – Überzeugend ist Sandra auf jeden Fall, als sie sich mit uns in bestem Englisch unterhält. Wir sitzen unter einem Vordach vor ihrem Elternhaus und trinken Chai. Die 13-Jährige hilft ihren Eltern bei ihrem Geschäft: Touristen durch die Backwaters des Ortes Alleppey (offizieller Name: Alappuzha) an der Westküste Indiens zu fahren.
Auch wir gehören dazu: Wir machen eine Tagestour, bei der wir mit einem kleinen Kanu durch enge Kanäle eines Dorfes gepaddelt werden. Und beobachten dabei die Dorfbewohner bei ihrem Alltag mit dem Wasser: Sie springen in die Kanäle, putzen Zähne, spülen und waschen dort. Die Backwaters sind ein über 900 Kilometer langes, verzweigtes Netz aus Wasserstraßen im Hinterland der Küste, auf einer Fläche von etwa 1900 Quadratkilometern.
Klein-Venedig am Arabischen Meer
Transportiert werden Mensch und Waren, na klar, über Boote. Mir wird klar, warum Alleppey und sein Umland manchmal mit Venedig verglichen werden. Sogar Wasserbusse gibt es hier, Boote, die feste Haltestellen anfahren. Auch viele luxuriöse und riesige Hausboote starten von Alleppey aus zu mehrtägigen Fahrten durch die Backwaters.

Auf solchen Hausbooten können Touristen die Backwaters erkunden
Zurück zu Sandra. Wir sind wirklich beeindruckt von ihrem Englisch. Allerdings war sie bis jetzt auf einer christlichen Privatschule – obwohl sie Hinduistin ist. Dort ist der Unterricht im Normalfall besser, als in staatlichen Schulen.
Das meiste Englisch, sagt Sandra, habe sie aber von den Touristen gelernt, die aus alles Welt zu ihrem Haus kommen: Italiener, Spanier, Amerikaner, oder eben wir Deutsche. Daher kann sie Bruchstücke aus vielen Sprachen und weiß viel von der Welt. Sogar Angela Merkel kennt sie. Und viele Zaubertricks, mit denen sie uns beim leckeren Mittagessen (Fisch auf einem Bananenblatt mit verschiedenen Soßen, Reis und frittiertem Papad-Brot – LECKER!) unterhält.

Fisch, indische Soßen, Papad-Brot und natürlich Reis. Ein Hammeressen
Kerala – der Streberstaat
Sandra ist kein Einzelfall. Kerala hat die höchste Alphabetisierungsrate Indiens mit fast 94 Prozent. Zum Vergleich: Der indische Schnitt liegt bei 74 Prozent. Der Staat gilt als gebildet, er hat ein hohes Durchschnittseinkommen und eine höhere Lebenserwartung als der Rest Indiens. Slums gibt es eigentlich nicht. Auch die Stellung der Frauen ist besser, wenn auch nicht völlig gleich.
Dabei ist ein großer Teil Keralas immer noch von der Landwirtschaft und dem Fischfang geprägt. Allerdings sind die Verhältnisse durch Agrarreformen relativ gut, auch der Tourismus wird immer stärker. Eine nennenswerte Industrie gibt es aber nicht, das Problem sind vielleicht zu starke Gewerkschaften. Die Arbeitslosigkeit ist daher recht hoch, was viele der gut ausgebildeten Keralesen ins Ausland treibt. Eine Folge der Politik Keralas: Denn dort wurde 1957 die erste demokratische kommunistische Regierung gewählt. Seitdem regiert die immer noch im Wechsel mit der Kongresspartei.
Der Berufswunsch von Sandra, den sie uns verrät, bevor wir wieder aufbrechen, hat daher vielleicht ganz gute Chancen in Kerala: Sie will Ärztin werden. Jetzt kommt sie aber erst einmal in die 9. Klasse.
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