16. Mai 2016. Die Hälfte meiner Zeit in Indien ist rum. Ein guter Zeitpunkt, um mal zurückzublicken, wo ich im indischen Alltag schon gut zurechtkomme – und was mich immer noch verzweifeln lässt.

42,5 Tage noch, hat mir die Spezialsuchmaschine Wolfram Alpha ausgerechnet – dann ist meine Zeit in Indien vorbei. Und wie so oft bei Auslandsaufenthalten: Die Zeit ist schnell vergangen, verflogen, geradezu gerast. Jetzt ist Halbzeit.

Schon seit längerem plane ich diesen Blogpost, denn er soll etwas besonderes werden. Ich will zurückblicken auf meine erste Zeit hier in Indien, und ein bisschen zusammenfassen: Was sind Momente, Gefühle oder Handlungen, mit denen ich gut klarkomme/an die ich mich schnell gewöhnt habe – und was sind Aspekte des indischen Alltags, die ich noch nicht so ganz verinnerlicht habe, oder es vielleicht auch nie tun werde.

Warum heute ein guter Tag für diesen Post ist:

Es passt irgendwie gut, dass ich gerade heute blogge: Denn an diesem 16. Mai sind in Tamil Nadu Regionalwahlen. Darüber werde ich schreiben, sobald es Ergebnisse gibt. Aber der Wahlkampf hat meine erste Zeit hier sehr geprägt. Und dann ist heute außerdem noch Feiertag. Auch das ist ein bisschen der rote Faden meiner ersten Zeit – Feiertage gab es ständig.

Inspiriert wurde ich zu diesem Text von meiner Mitbewohnerin Lea – inzwischen ist sie wieder in Deutschland, ihr Blog ist trotzdem zu empfehlen.

Diesmal also ein sehr persönlicher Blogpost. Wem das zu viel Gesülze ist – ich mache in den kommenden Tagen wieder wie gewohnt weiter. Keine Panik 😉

Was ich vermisse:

Frische Temperaturen, denn wir haben hier jeden Tag über 40 Grad im Schatten. Nachts wirds mal unter 30, aber geruhsamer Schlaf geht anders. Ich hab‘ mir natürlich auch die drei heißesten Monate hier ausgesucht.

Durchschnitts- und Höchsttemperaturen in Vellore, Tamil Nadu

Durchschnitts- und Höchsttemperaturen in Vellore

Stille. Denn immer gibt es hier irgendein lautes Geräusch: Die Lautsprecher der Tempel und Kirchen, das ständige Hupen auf den Straßen, Geschrei um 6 Uhr Früh.

Normal behandelt zu werden: „Foreigner, Foreigner“, ruft das Nachbarsmädchen für ihr Leben gerne. Ich frage mich immer, ob sie das Problem versteht, wenn ich sie nur noch „Indian“ nenne. Menschen, die nicht indisch aussehen, sind hier Besonderheiten. Und werden so behandelt.
Mal mit besonderem Respekt und Höflichkeit, mal mit unverschämten Verhalten. Immer wieder wird man ungefragt fotografiert (manche fragen natürlich auch nett, und dann sage ich schon mal Ja), oder man bekommt einen Handschlag aufgezwungen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Einmal hat ein Inder meine Faust sogar gewaltsam aufgepresst. Die schöne Namaste-Verbeugung kommt leider viel zu selten vor.

Saubere Straßen. Hier erfüllt sich tatsächlich ein bisschen das Indienklischee. Es liegt sehr viel Müll herum: auf den Straßen, im Straßengraben, am Strand. Ich erinnere mich noch an die ersten Tage und den Gestank, der überall in der Luft lag. Inzwischen habe ich mich dran gewöhnt, und bin sehr froh, dass gegenüber von meiner Wohnung ein Müllcontainer steht.

Trinkwasser aus dem Hahn. Für mich der Klassiker, wenn ich Deutschland verlasse. Es ist nicht schlimm, Wasser aus Flaschen oder einem riesigen Kanister zu zapfen. Aber irgendwie genieße ich es total, wenn das Wasser aus der Leitung auch trinkbar ist. Das Risiko bin ich hier aber zugegebenermaßen auch noch nicht eingegangen. Ich putze mit dem Leitungswasser Zähne und dusche mich damit – eine andere Freiwillige hat das Leitungswasser getrunken und fand es total okay. Liegt aber sicher auch am Ort – in Chennai, so habe ich gehört, schmeckt das Leitungswasser salzig.

Wasser kommt aus der Leitung, Trinkwasser aus dem Kanister.

Wasser kommt aus der Leitung, Trinkwasser aus dem Kanister.

Grillen. Die indische Küche ist super, ich bin wirklich sehr happy. Und auch den vielen Reis habe ich mich inzwischen gewöhnt. Weil es auch oft Brote gibt, ist der Reis gar nicht so schlimm. Ein bisschen erinnert er mich an die Kartoffel in Deutschland und alle deren Einsatzmöglichkeiten. In den letzten Wochen habe ich aber von so vielen Freunden aus Deutschland Fotos vom Grillen bekommen, da wurde ich schon etwas neidisch. Es gibt zwar ab und zu ein Barbecue-Restaurant, richtig durchgesetzt hat sich das hier aber leider nicht. Ich vermisse ein einfaches Schweinesteak (sowas gibt’s hier natürlich gar nicht).

An was ich mich gewöhnt habe:

Essen mit den Händen. Wobei: Eigentlich nur mit einer Hand, der rechten. Die linke Hand ist unrein (damit wäscht man sich auf einem indischen Klo) und darf daher maximal den Teller halten. Serviert wird deshalb der Reis mit Soße darübergekippt. Gegessen wird, indem man den Reis und die Soße mit der Hand vermengt, die Finger zu einer Schaufel formt und sich das Essen dann mit dem Daumen in den Mund schiebt. Klappt inzwischen bei mir immer besser. Am Ende des Essens bekommt man einen Wasserbecher zum Abwaschen, oder geht zu einem bereitgestellten Waschbecken.

Südindisches Abendessen: Kartoffel-Karotten-Curry, Spinat und natürlich Reis

Südindisches Abendessen: Kartoffel-Karotten-Curry, Spinat und natürlich Reis

Auf dem Boden zu sitzen, lieben die Inder. Vielleicht lieben sie auch einfach den Boden. Sie sitzen dort nicht nur, nein, viele schlafen auch dort, anstatt sich auf Betten zu legen.

Feilschen um Preise, ist so eine Sache. Ich habe entweder das Gefühl, den Anbieter total in Armut zu hinterlassen, oder aber völlig übers Ohr gehauen zu werden. Vermutlich ist es aber immer letzteres. Warum sollte denn ein Rikschafahrer mit mir Fahren, wenn es sich für ihn nicht lohnen würde, frage ich nämlich oft. In fremden Orten in Indien ist das nicht so schlimm, dort kennt man die Preise ja nicht. Anstrengend ist es tatsächlich, wenn ich hier in Vellore noch über die Fahrpreise diskutieren muss, die kenne ich nämlich (auf Tamil: „Eennaku vilai theriyum“). Spaß macht Verhandeln aber halt doch – mit dem Gefühl, ein Schnäppchen gemacht zu haben 😉

Sorgfältiger Umgang mit dem Taxameter. Benutzt hier eh niemand.

Sorgfältiger Umgang mit dem Taxameter. Benutzt hier eh niemand.

Nette und offene Menschen ist so ein bisschen die Gradwanderung zum „Normalsein“ oben. Denn nicht alle Inder wollen die Weißen einfach nur anfassen oder sie fotografieren. Ganz viele Menschen hier, so mein Eindruck, wollen mich einfach nur Willkommen heißen in ihrem Land. Oft ergaben sich schon Gespräche mit Leuten, die mir einfach nur helfen wollten, wenn ich unterwegs etwas verloren gewirkt habe. Da zeigt sich mir so ein bisschen die alte Wahrheit: „Idioten gibt es überall“ – aber auch sehr viele tolle, und nette Menschen.

Kühe sind überall. Noch so ein Klischee, das wirklich stimmt. Ich wusste aber vor meinem Aufenthalt hier nicht, dass die Kühe ganz normal als Nutztiere gehalten werden. Es gibt Kuhmilch im Laden zu kaufen. Nur getötet werden dürfen sie nicht, zumindest von Hindus (denn auf manchen Speisekarten gibt es sehr wohl „Beef“). Die Angehörigen der obersten Kaste werden, so der der Glaube, als Kuh wiedergeboren, wenn sie ihr Leben lang nicht gesündigt haben. Außerdem soll die Gottheit Krishna ein Kuhhirte gewesen sein.

Eine Kuh mitten in Vellore. Das indische Standardstraßenbild.

Eine Kuh mitten in Vellore. Das indische Standardstraßenbild.

Farbige Kleidung ist wirklich eine schöne Erfahrung. Überall ist es bunt. Die Frauen in ihren tollen Saris, die Männer tragen Kurthas oder (teilweise) verrückte Hemden. Auch die Häuser bei uns im Ort sind in verschiedensten Farben bemalt. Indien und Farbe – das ist wirklich eine Einheit, nicht nur zum Holi-Fest.

Straßenszene in meinem Dorf Shenbakkam. Die Häuser erstrahlen in verschiedenen Farben

Straßenszene in meinem Dorf Shenbakkam. Die Häuser erstrahlen in verschiedenen Farben

Der Shop gegenüber hat einfach alles. Der Verkäufer begrüßt mich immer schon ganz freundlich, und berechnet mir sogar für die Cola nur den Maximalverkaufspreis. Viele Händler schlagen da noch eine „Cooling-Charge“ drauf. Fairer Typ, also. Und vor allem sein Angebot: Eigentlich hat er alles, was man braucht.
Genauso gut ist die Apotheke ein paar Häuser weiter. Der Apotheker kann nicht nur jeden Wirkstoff besorgen, wenn man ihm den englischen Namen sagt. Er verkauft zudem auch Spezialmedikamente: Schokolade und 2-Liter-Flaschen Cola.

Mittagsschlaf ist hier wirklich nötig. Oft schlafe ich in der Nacht nur schlecht, und vor allem brauche ich auch viel mehr Schlaf als zuhause. Die Hitze macht körperlich fertig. Und so mache ich das, was die meisten Indier zwischen 12 und 15 Uhr machen: Ausruhen. Die Straßen sind in dieser Zeit sowieso wie leergefegt. Aushalten lässt es sich höchstens in den klimatisierten Kaufhäusern.

Lange Entfernungen machen mir irgendwie auch nichts mehr aus. 27 Stunden im Nachtszug nach Mumbai, fünf Stunden zur Küste mit dem Bus – alles kein Problem. Die Uhren ticken hier gemächlicher und man hat immer das Gefühl, es geht irgendwie vorwärts. Es dauert halt nur ein bisschen. Und mit dieser Einstellung lässt es sich wunderbar reisen.

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